„Kann KI den Autor eines Meinungsbeitrags ersetzen?“

Am 12. Juli 2025 veröffentlichte The Guardian einen Artikel mit dem beunruhigenden Titel: „Qualität wissenschaftlicher Arbeiten in Frage gestellt, da Akademiker von den Millionen veröffentlichter Artikel ‚überwältigt‘ sind .“ Darin wird eine explosionsartige Zunahme wissenschaftlicher Veröffentlichungen diskutiert, die oft durch künstliche Intelligenz (KI) generiert wird. Sie ist so stark, dass sie die Zeitschriften überschwemmt und menschliche Beiträge in einer Masse von Artikeln mit teilweise zweifelhaftem Inhalt ertrinken.
Diese Beobachtung wirft eine berechtigte Frage auf: Wenn KI in der Lage ist, wissenschaftliche Artikel zu schreiben, kann sie dann auch Kolumnen schreiben? Kann sie den Autor eines Meinungs-, Reflexions- oder Engagementtextes ersetzen?
Diese Frage ist nicht nur aus technischen, sondern auch aus intellektuellen und ethischen Gründen berechtigt. Auf den ersten Blick scheint KI für diese Aufgabe wie geschaffen: Sie kann klare, gut strukturierte Texte erstellen, die fehlerfrei sind und einem bestimmten Ton entsprechen. Sie beherrscht die Kunst der Rhetorik, kann mehrere Quellen zusammenfassen und den Stil eines erfahrenen Leitartiklers nachahmen.
Lebendiger GedankeEine Plattform ist jedoch nicht auf eine elegante Form beschränkt. Sie ist das Ergebnis persönlicher Gedanken, Engagements, manchmal auch Wut oder Hoffnung. Sie setzt eine Position voraus, einen einzigartigen Standpunkt, der in der menschlichen Erfahrung verankert ist.
Victor Hugo (1802–1885) schrieb: „Form ist Inhalt, der an die Oberfläche steigt.“ Mit anderen Worten: Ein guter Text trennt nicht Erscheinung und Inhalt: Er verkörpert einen lebendigen Gedanken. Kann eine KI, wie hochentwickelt sie auch sein mag, ihre eigenen Gedanken formulieren? Kann sie Ungerechtigkeit empfinden, empört sein, zweifeln, glauben oder hoffen? Nein. Sie kann diese Emotionen nachahmen, aber nicht erleben. Was eine Plattform leistungsfähig macht, ist oft das, was sich der reinen Logik entzieht: eine Intuition, eine intime Erfahrung, ein Fehler oder eine Revolte. Dies sind Dinge, die KI nur simulieren kann.
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Le Monde